E. Gatz: Die katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert

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Titel
Die katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Gatz, Erwin
Erschienen
Freiburg 2009: Herder Verlag
Anzahl Seiten
227 S., 2 Karten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alois Steiner

Der Autor, der sich in den letzten Jahrzehnten ausführlich mit der Geschichte der Bistümer in den deutschsprachigen Ländern, dem Bischofslexikon, sowie mit der Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (8 Bände 1991–2008) befasst hatte, wagt sich an eine kurze Geschichte der katholischen Kirche Deutschlands im 20. Jahrhundert heran.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es über 11’600 Pfarreien oder provisorische Vikarien. Die Katholiken zählten 17,7 Millionen Mitglieder (35,8% der Reichsbevölkerung). Im besonderen galt es, die Seelsorge in der Diaspora voranzutreiben, unterstützt vom 1850 gegründeten «Bonifatiusverein». Die liturgische Bewegung hatte die Pfarreien noch nicht erreicht. Die Volksschulen waren in den katholischen Gebieten konfessionell geführt. Das im 19. Jahrhundert errichtete Vereinswesen blühte auf. Es besass im Volksverein für das katholische Deutschland einen kraftvollen Mittelpunkt (1914: 805’000 Mitglieder). Im Görresverein, 1876 im Kulturkampf gegründet, verfügten die katholischen schufen das berühmt gewordene Staatslexikon und gründeten 1888 das Römische und 1908 das Jerusalemer Institut. Die Caritas blühte auf, nicht zuletzt dank den sozialkaritativen weiblichen Ordensgemeinschaften.

Zwischen Deutschland und Rom gab es intensive Kontakte über die Münchner Nuntiatur und die auch während des Kulturkampfes nie suspendierte Bayerische Gesandtschaft beim Heiligen Stuhl. Einflussreiche Persönlichkeiten wirkten an wichtigen vatikanischen Ämtern (Franz Ehrle SJ, Heinrich Deniflé OP, Thomas Esser OP).

Auf dem politischen Feld wirkte die gut in der katholischen Bevölkerung verankerte Zentrumspartei unter Führung von Ludwig Winthorst. Nach dessen Tode (1891) wandte sich das Zentrum von der Opposition ab und trug die Politik des Kaiserreiches mit. Bedeutenden Einfluss entfaltete die katholische Presse und übernationale Bedeutung gewannen die katholischen Verlage Bachem (Köln), Schöningh (Paderborn), Herder (Freiburg i.Br.), Pustet (Regensburg) etc. Flaggschiff war Herder mit der Herausgabe bedeutender Lexika (Lexikon für Theologie und Kirche, das Staatslexikon) und mit der Herausgabe von Ludwig von Pastors «Geschichte der Päpste», sowie mit der vom Beuroner Benediktiner Anselm Schott geschaffenen «Volksausgabe» des Messbuches. Integralismus, Modernismus sowie der Literatur- und der Gewerkschaftsstreit sorgten für Unruhe um die Jahrhundertwende.

Die Kriegsjahre 1914/18 brachten schmerzliche Spannungen zwischen dem deutschen und dem französischen Katholizismus. Durch die Revolution vom November 1918 erfolgte ein Umdenken der zutiefst mit der Monarchie verbundenen Katholiken in die ungewohnte Form der Weimarer Republik. In den Zwanzigerjahren spielte Eugenio Pacelli, zuerst als Nuntius in München, dann ab 1925 in Berlin, eine starke Rolle. Die Weimarer Verfassung gewährte den Kirchen eine deutliche Besserstellung. Zu den grossen Aufbrüchen in der Zwischenkriegszeit gehörte die Liturgische Bewegung in enger Verbindung mit der Jugendbewegung. In diesen Jahren erfolgten erste ökumenische Sondierungen.

Einen gewaltsamen Einbruch bildete die Zeit der Nazi-Herrschaft ab 1933, die die katholischen Einrichtungen des Vereinswesens und des Zentrums gewaltlos ausschaltete, ein für weite Kreise unerklärlicher Vorgang. Das Konkordat war nur ein schwacher Ersatz, da sich die Nazis nicht an die Konkordatsbestimmungen hielten. 1937 kam es zum offenen Konflikt, als Pius XI. die Kirchenpolitik des Dritten Reiches anprangerte. Mehr als 12’000 Geistliche gerieten mit dem Regime in Konflikt. Ohne brutale Verfolgung war die Unterwerfung der Kirchen nicht zu erreichen, so dass sich Hitler entschloss, «die Auseinandersetzung mit der Klerisei auf die Zeit nach dem Krieg aufzusparen». Der organisierte Mord an Altersschwachen und Geisteskranken erregte die Öffentlichkeit (Bischof von Galen). Die Judenverfolgungen konnten nur diskret angeprangert werden, um das Leben der Verfolgten nicht noch mehr zu gefährden. Im katholischen Volk war eine weitgehende Resistenz gegen die nationalsozialistische Weltanschauung und ihren Totalitätsanspruch festzustellen.

Nach der bedingungslosen Kapitulation vom 8. Mai 1945 waren die Kirchen die einzigen intakten Grossorganisationen in Deutschland, da der deutsche Staat aufgehört hatte zu existieren. Von den Besatzungsmächten wurde gerade die katholische Kirche als glaubwürdige Instanz angesehen. Die Bischöfe drängten auf Rückkehr zu rechtsstaatlichen Verhältnissen, auf die Wiedererrichtung katholischer Volksschulen, auf gerechte, aber differenzierte Bestrafung der Schuldigen, auf Massnahmen gegen die Hungersnot und auf die Rückgabe der vom NS-Regime enteigneten kirchlichen Gebäude. Ab 1946 floss beträchtliche karitative Hilfe aus zahlreichen Ländern nach Deutschland. Ein gewaltiges Problem war die Eingliederung der vielen Vertriebenen aus dem Osten. Ein riesiger Flüchtlingsstrom brachte eine zuvor unbekannte Konfessionsvermischung. Bald funktionierte einGelehrten über eine Not- und Verteidigungsgemeinschaft. Sie gaben Zeitschriften heraus, dichtes Netz neuer Seelsorge- und Gottesdienststationen. 1950 wurde in allen Bundesländern anstelle der üblichen Ortskirchensteuer eine Diözesankirchensteuer eingeführt. Das bewirkte eine Verstärkung der Diözesanleitung. Als neue parteipolitische Option entstand nach 1945 die CDU/CSU als offene, aber christlich orientierte Partei. Am Kriegsende sah sich die Kirche auf Seiten der Opfer. Bald aber erhoben sich Stimmen, die eine Mitschuld der Kirche am Nazi-Geschehen zu erkennen glaubten.

Nach dem Krieg gab es Bemühungen um eine neue Gestalt kirchlicher Laienarbeit. Die Wiederherstellung der Verbandsstruktur aus der Zeit vor 1933 wurde abgelehnt; es sollte ein Neuaufbau in Anlehnung an die Diözesanstrukturen und Ortsgemeinden unter bischöflicher Leitung erfolgen. Die deutschen Katholiken waren in der Nachkriegszeit aus ihrer traditionellen Minderheitsstellung herausgetreten: die Mehrheit sah ihre politische Heimat in der CDU/CSU, was durch die Bundestagswahlen von 1953 und 1957 bestätigt wurde.

1958 erfolgte mit dem Tode Pius’ XII. und der Wahl von Angelo Roncalli zum Papst (Johannes XXIII.) ein tiefer Einschnitt in der katholischen Kirche. Die Ankündigung eines ökumenischen Konzils sorgte für beträchtliches Aufsehen. Die deutschen Bischöfe spielten auf dem Konzil 1962–1965 eine bedeutende Rolle, so Frings (Köln), Döpfner (München), Höffner (Münster) oder Volk (Mainz). Mitten in die Konzilszeit hinein platzte die Aufführung des Schauspiels «Der Stellvertreter» von Rudolf Hochhuth, das Pius’ XII. angebliches «Schweigen» anprangerte. Hochhut schob gleichsam die Schuld der nationalsozialistischen Judenverfolgung auf den «schweigenden» Papst ab. Viele Katholiken liessen sich dadurch in eine nicht mehr abreissende Kirchenkritik hineinziehen. Allerdings gab es auch positive Zeichen: Die 1962 bei der Katholischen Akademie in Bayern (ab 1967 in Bonn) gegründete «Kommission für Zeitgeschichte» begann ihre Forschungsarbeit über den deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Bis 2007 wurden über 150 Quellenbände und Monographien veröffentlicht.

Während des Konzils sorgte der Briefwechsel zwischen dem polnischen und dem deutschen Episkopat für eine versöhnliche Note im heissen Problem der deutsch-polnischen Grenze und der deutsch-polnischen Aussöhnung. Die westdeutsche katholische Öffentlichkeit stand damals stark unter dem Druck der Vertriebenenverbände. Erst die Ostverträge mit der völkerrechtlichen Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze 1972 brachte eine für die polnische Seite zufriedenstellende Regelung.

In Deutschland bildete sich ab 1967 eine starke Opposition mit radikalen Forderungen und utopischen Demokratisierungsvorstellungen, zugleich ein starker Widerspruch gegen die Enzyklika «Humanae Vitae». Die Forderung nach Freigabe der Priesterehe und der Zulassung von Frauen zum geistlichen Amt blieben seither Dauerthemen. Das Zweite Vatikanum in Verbindung mit dem gesellschaftlichen Umbruch der späten Sechzigerjahre löste eine Epoche kritischer Selbstbefragung aus. Breite Schichten errangen damals einen ungeahnten materiellen Aufstieg. Daneben erfolgte eine allgemeine Motorisierung mit neuen Urlaubsmöglichkeiten. Der Sozialstaat ermöglichte eine zuvor unbekannte Unabhängigkeit von den Bindungen an Familie, Nachbarschaft und Wertegemeinschaft. Die Anhebung des Bildungsniveaus und die Einführung des Fernsehens verstärkten die Erosion des katholischen Milieus. Die Folgen waren schwerwiegend: Reduzierung des Gottesdienstbesuchs, schwere Einbrüche bei Priester- und Ordensberufungen, häufige Amtsniederlegungen und Ordensaustritte, ferner ein Rückgang der Eheschliessungen und gleichzeitige Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften.

Als Johannes Paul II. 1988 vor den Teilnehmern eines Kongresses von Moraltheologen auf die Einhaltung von «Humanae Vitae» pochte, kam es zu einem Protest von 163 deutschsprachigen Theologieprofessoren in der sog. «Kölner Erklärung». Nach dem Fall der Berliner Mauer (9. November 1989) beruhigte sich die Situation. Am Ende des 20. Jahrhunderts stellte sich die kirchliche Lage in der Bundesrepublik zwiespältig dar. Die seinerzeit herbeigewünschte Liturgiereform vermochte die Massen nicht zu binden. Heftige Diskussionen gab es infolge des Wandels des Gemeindeverständnisses, die zur Rollenunsicherheit bei Priestern und jenen Laien führte, die wegen des Priestermangels Aufgaben übernommen hatten, die ihnen offiziell nicht zustanden. Konflikte entstanden auch um die Mitwirkung kirchlicher Beratungsstellen bei Schwangerschaftskonflikten. Die Gründung von Donum Vitae stellte für viele Katholiken mit Berufung auf ihr Gewissen einen offenen Widerspruch zum Entscheid des kirchlichen Lehramtes dar.

Der vorliegende Band ist eine Meisterleistung des Autors, bringt er doch auf gut 200 Seiten das Kunststück fertig, ein überquellendes Jahrhundert knapp und übersichtlich darzustellen.

Zitierweise:
Alois Steiner: Rezension zu: Erwin Gatz (Hg,), Die katholische Kirche in Deutschland im 20. Jahrhundert, Freiburg, Herder, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 356-359.

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